Befreit auf dem Todesmarsch

zugang

Wegen der näher rückenden Fronten begann die SS Anfang 1945, die ersten Außenlager des KZ Buchenwald zu räumen und die Häftlinge zurück ins Hauptlager oder in andere Lager zu bringen. Anfang April 1945 rückten amerikanische Truppen in Thüringen vor. Nun entschied die SS, auch die Hauptlager Buchenwald und Mittelbau-Dora zu räumen. Teils erfolgten die Räumungstransporte in andere Lager per Bahn, teils trieb die SS die entkräfteten Häftlinge aber auch auf Fußmärsche. Tausende Männer, Frauen und Kinder starben in den Waggons, noch mehr auf den Todesmärschen.

Einigen Häftlingen, darunter auch Jugendlichen, gelang während der Räumungstransporte die Flucht. Sie versteckten sich und wurden von amerikanischen und sowjetischen Truppen befreit.

Todesmarsch, Flucht, Versteck. Magda Brown berichtet über ihre Befreiung im März 1945 in einem Interview, 2014.

Magda Brown (geb. Perlstein) wurde am 11. Juni 1927 in Miskolc (Ungarn) geboren. Als 17-Jährige wurde sie ins KZ Auschwitz deportiert, im gleichen Jahr folgte der Weitertransport zur Zwangsarbeit in einer Sprengstofffabrik im hessischen Allendorf. Das dortige KZ-Außenlager Münchmühle wurde im März 1945 von der SS geräumt, die Gefangenen Richtung Buchenwald getrieben. Auf dem Fußmarsch gelang der Jugendlichen die Flucht. Zusammen mit 20 anderen Frauen versteckte sie sich in einem Viehstall. Dort wurden sie von amerikanischen Soldaten befreit.

(privat/magdabrown.com)

Foto der Scheune, in der Magda Brown und andere Häftlinge des Buchenwald-Außenlagers Münchmühle sich 1945 verstecken, nach 1945.

Nach anderthalb Tagen im Versteck wurden Magda Brown und die anderen Frauen von zwei Soldaten der 6th Armored Division der US-Armee entdeckt und befreit.

(privat/magdabrown.com)

„Noch begreift keiner, dass wir zurückgelassen wurden. Es bewacht uns wirklich keiner mehr! Halina und einige Mädchen entschlossen sich ins Dorf zu gehen […]. Auf der Lichtung liegen die kranken und schwachen Frauen in blau-grau gestreifter Häftlingskleidung, deren Farbe nicht zu diesem frühlingshaften, frischen Grün passt.
Die Mädchen kehren zurück […]. Sie sind glücklich, lächeln, schreien, weinen vor Freude. DAS KRIEGSENDE!!! Dieses herrlichste Wort fällt unerwartet und gibt Kraft.
Die Frauen laufen in verschiedene Richtungen auseinander. Sie sind frei, endlich frei. Ich glaube es noch nicht. Wie ist das geschehen? ‚Im Dorf ist die sowjetische Armee, wir haben mit den Soldaten gesprochen‘, sagt eine Kameradin.“

Maria Brzęcka erinnert sich an ihre Befreiung durch sowjetische Soldaten am 5. Mai 1945, um 1990.

Maria Brzęcka und ihre Schwester Halina wurden Mitte April 1945 auf einen Todesmarsch aus dem Außenlager Meuselwitz Richtung Tschechien getrieben. Die vollkommen erschöpfte Maria wurde auf dem Marsch 15 Jahre alt. Kurz vor Prag setzten sich die SS-Wachen ab, die Häftlinge waren frei.

(Als Mädchen im KZ Meuselwitz–Erinnerungen von Maria Brzęcka-Kosk, Dresden 2016)

Notizen von Maria Brzęcka vom Todesmarsch, April/Mai 1945.

Auf dem Zettel notierte Maria Brzęcka die Stationen des Todesmarsches von Meuselwitz Richtung Prag.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Todesmarsch“, Aquarellzeichnung des polnisch-jüdischen Künstlers Walter Spitzer, 1945.

Walter Spitzer wurde am 14. Juni 1927 in Cieszyn geboren. Am 10. Februar 1945 kam der aus Polen Verschleppte nach einem Todesmarsch aus Auschwitz über das KZ Groß-Rosen in Buchenwald an. Der 17-Jährige wurde am 7. April 1945 von der SS auf einen weiteren Todesmarsch geschickt. Ihm gelang die Flucht, in der Nähe von Jena befreiten ihn amerikanische Soldaten.

(Ghetto Fighters’ House – Beit Lochamei HaGeta’ot)

Amerikanisches Sanitätspersonal behandelt einen 18-jährigen sowjetischen Überlebenden des Massakers von Gardelegen, April 1945.

In einer in Brand gesetzten Feldscheune am Stadtrand von Gardelegen ermordeten in der Nacht vom 13. auf den 14. April 1945 SS-Angehörige, Luftwaffensoldaten sowie Angehörige von Volkssturm und Reichsarbeitsdienst über 1000 KZ-Häftlinge. Sie waren mit Todesmärschen aus dem KZ Mittelbau-Dora und Lagern in Hannover in Gardelegen gestrandet. Unter den Ermordeten waren etwa 100 Jugendliche; namentlich bekannt sind drei Sechzehnjährige. Nur wenige Häftlinge überlebten das Massaker.

(NARA)

Befreiungen


Spielen
Kontakte
Fantasie
Hoffnung

Um dem von Gewalt und Todesangst geprägten Lageralltag zu entfliehen, nutzten viele Kinder und Jugendliche ihre Fantasie und versuchten sich durch Spiele in eine andere Welt zu begeben. Manche begaben sich auch zeichnerisch in Fantasiewelten.

Für die Kinder und Jugendlichen, die alleine ins KZ verschleppt worden waren, bildeten Kontakte zu Mithäftlingen eine Voraussetzung, den Überlebenswillen nicht zu verlieren. Die jungen Häftlinge spendeten sich gegenseitig Hoffnung und Trost. Überlebenswichtig waren Kontakte zu erwachsenen Funktionshäftlingen mit Einflussmöglichkeiten.

„Warst du im Lager Buchenwald, da oben ist es gar so kalt“. Gedicht und Zeichnung von Johann Stojka, 26. Februar 1945.

Der 15-jährige Rom wurde im Sommer 1944 mit seinem Bruder von Auschwitz nach Buchenwald verschleppt. In einem Heft hielt er seine Erfahrungen mit Versen und Zeichnungen fest. Hoffnungsvoll endet sein Gedicht mit den Worten: „Wir kommen doch noch einmal raus“. Die beiden Brüder überlebten als einzige ihrer Familie.

(Kazerne Dossin, Mechelen)

Zeichnung von Maria Brzęcka aus dem Außenlager Meuselwitz, 1944/45.

Um der Realität des Frauenlagers Meuselwitz zu entfliehen, zeichnete die damals 14-jährige Maria Brzęcka. Ein kleiner Bleistift und alte Kontrollscheine aus dem Werk, in dem sie Zwangsarbeit leisten musste, erlaubten Maria, sich ihre „eigene Traumwelt“ zu erschaffen. Sie zeichnete Szenen aus dem Leben vor dem Krieg, die sie sich von älteren Mithäftlingen schildern ließ. Daneben sind auch viele Zeichnungen von extravaganten Frauengestalten erhalten.

(Gedenkstätte Buchenwald)

Tagebuch von Leopold Claessens, 1./2. April 1945.

Auch das heimliche Führen von Tagebüchern oder Notizen war eine Strategie der Selbstbehauptung und des Überlebens. Der Belgier Leopold Claessens wurde im Alter von 19 Jahren als politischer Häftling in das KZ Mittelbau-Dora verschleppt. Im April 1945 überlebte er einen Räumungstransport in das KZ Bergen-Belsen. Das Tagebuch führte er rückwirkend nach seiner Ankunft in Bergen-Belsen und zeichnete auf, was er zu essen bekommen hatte.

(privat)

Blumen gegen Brot. Franz Rosenbach im Interview mit der USC Shoah Foundation, 23. Oktober 1998.

1944 kam Franz Rosenbach als 17-Jähriger Sinto nach Mittelbau-Dora. Im Lager war Hunger ein stetiger Begleiter. Um seine geringe Brotration aufzubessern, begann er in seiner freien Zeit Blumen zu pflücken und diese beim Blockältesten gegen Brot einzutauschen. Der Kontakt zu den privilegierten Funktionshäftlingen konnte überlebenswichtig sein.

(Visual History Archive)

„Mit Papi im Zoo“. Lagerkommandant Karl Otto Koch mit seinem Sohn Artwin im Zoo von Buchenwald, Oktober 1939.

1938 errichtete die SS auf dem Ettersberg einen Zoo. Er diente als Freizeitangebot für die SS und ihre Familien. Während für die im Lager leidenden Kinder Spielen nur begrenzt möglich war, befand sich der Zoo unmittelbar außerhalb des Lagerzauns. Dort vergnügten sich die Kinder des SS-Personals.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Humor war ein wesentlicher Teil unseres geistigen Widerstands. Und dieser geistige Widerstand war kurz gesagt die Voraussetzung für einen Lebenswillen. Das sage ich Ihnen als Exhäftling. Ganz gleich, wie selten er vorkam, wie sporadisch oder wie spontan, er war von großer Bedeutung. Von sehr großer Bedeutung!“

Humor als Überlebensmittel. Felicija Karay in einem Zeitzeugeninterview, um 2000.

Von Juli 1944 bis April 1945 musste die 17-jährige Felicija Schächter (verh. Karay) für die HASAG Leipzig Zwangsarbeit leisten. In einem Interview mit der Psychologin Chaya Ostrower beschrieb sie Humor als Mittel des geistigen Widerstands.

(Chaya Ostrower: Es hielt uns am Leben. Humor im Holocaust, Wiesbaden 2018)

Hasag ist unser Vater,
er ist der Beste von allen,
er verspricht uns vor allem
lauter glückliche Jahre.
In Leipzig man ein Paradies auf Erden hat,

Brot und Butter und Gemüsesalat,
Luxuswohnungen statt einem Loch,
saubere Pritschen, vier Etagen hoch,
Toiletten und Duschen zu jeder Zeit
Und für jede Frau – ein Häftlingskleid!

Refrain:
Denn der Kommandant, der will,
dass hier nur Ordnung herrscht,
zu Beruhigung der Nerven,
bevor wir uns verwandeln,
in Büchsen von Konserven […]

HASAG-Hymne. Humorvoller Gesang der Häftlinge, vor 1945.

Die Frauen und Mädchen, die im Außenlager der HASAG Leipzig Zwangsarbeit leisten mussten, dichteten eine humorvolle Hymne, die sie häufig gemeinsam sangen. Die Zustände im Lager wurden in satirischer Weise beschrieben.

(Felicija Karay: Wir lebten zwischen Granaten und Gedichten: Das Frauenlager der Rüstungsfabrik HASAG im Dritten Reich, Köln 2001)

Szene aus dem Märchen Schneewittchen. Gipsfresko des französischen Häftlings Georges Sanchidrian im KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte, 1944.

Georges Sanchidrian fertigte im Unterkunftsblock 4 des Außenlagers von Mittelbau-Dora farbige Wandbilder auf den mit Gips verputzten Wänden an. Einige Fresken mit Märchenszenen blieben erhalten. In dem Block waren neben Erwachsenen auch jugendliche Häftlinge untergebracht. Sanchidrian (geb. 1905) starb auf einem Todesmarsch im April 1945.

(Deutsches Historisches Museum)

Erfahrungsräume


Kindertransporte nach der Befreiung

zugang

Die Eltern und weitere Verwandte der etwa 900 minderjährigen Überlebenden des KZ Buchenwald waren fast alle ermordet worden. Weitere Waisenkinder wurden nach der Befreiung aus anderen Lagern nach Buchenwald gebracht. Eine Rückkehr nach Hause war für die meisten undenkbar. Durch die Zusammenarbeit der Alliierten mit internationalen Hilfsorganisationen wurden Unterkünfte in Waisenhäusern und Pflegeheimen organisiert. Eine besondere Rolle spielte dabei die Organisation „Œuvre de secours aux enfants“ (OSE). Die Schweiz nahm 280 Kinder und Jugendliche aus Buchenwald, Frankreich 480 und England 250 auf. Viele der jüdischen Jugendlichen wollten später nach Palästina emigrieren.

Die meisten überlebenden Kinder und Jugendlichen aus dem KZ Mittelbau-Dora wurden in Bergen-Belsen befreit. Von dort aus wurden Transporte u.a. nach Schweden organisiert.

„Wo sind unsere Eltern?“ Befreite Kinder und Jugendliche aus Buchenwald auf dem Weimarer Hauptbahnhof in einem Zug nach Écouis (Frankreich), 1. Juni 1945.

Der 15-jährige aus Polen verschleppte jüdische Junge Jozek Dziubak schreibt in einer Mischung aus Deutsch und Jiddisch auf einen der Waggons: „Vo sind unsere Elterin? Ihr (Nazi)Mörder“. Der Zug brachte über 400 befreite Kinder und Jugendliche nach Frankreich.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Waisen“. Befreite Jugendliche auf dem Weg in ein Kinderheim in Écouis, Juni 1945.

Aufgrund der akuten Kleidungsnot im befreiten KZ hatten die amerikanischen Befreier die Kinder und Jugendlichen zum Teil mit Uniformen der Hitlerjugend eingekleidet. In Frankreich wurde ihr Zug daraufhin angegriffen, sie wurden für Nazis gehalten. Die Aufschriften auf den Waggons „K.L. Buchenwald“ und „Waisen“ dienten dem Schutz der Reisenden. Bei einem Halt drängen die Jugendlichen zum Fenster. Zu sehen sind auf diesem Foto Jacques Rybsztajn (zweiter von links) und Arthur Fogel (unten rechts).

(United States Holocaust Memorial Museum)

Jüdische Jugendliche mit Davidstern-Fahne vor ihrer Abreise aus dem befreiten KZ Buchenwald, 5. Juni 1945.

Die beiden Mädchen Yetti Halpern Beigel (links) und Martha Weber (rechts) waren im KZ Bergen-Belsen inhaftiert. Nach der Befreiung wurden sie zur medizinischen Behandlung ins DP-Camp Buchenwald geschickt. Zusammen mit einem namentlich unbekannten Jugendlichen aus Lettland (Mitte) wurden sie kurz nach ihrer Abfahrt nach Frankreich fotografiert. Die Mädchen wollen nach Palästina weiterreisen.

(Foto: James E. Myers, Gedenkstätte Buchenwald)

Ankunft: Am Bahnhof von Écouis werden die Kinder und Jugendlichen von den Behörden empfangen, 5. Juni 1945.

Nach der Zugfahrt werden sie von Mitarbeiter:innen der Hilfsorganisation für jüdische Kinder OSE empfangen. Die meisten Kinder und Jugendlichen blieben bis 1947/48 in Frankreich.

(Gedenkstätte Buchenwald)

Die Schweizer Filmwochenschau berichtet über die Ankunft der „Buchenwaldkinder“, 29. Juni 1945.

Rabbi Herschel Schacter begleitete die Kinder und Jugendlichen auf ihrem Transport aus Buchenwald in die Schweiz. In dem Film ist unter anderen der vierjährige Joseph Schleifstein zu sehen. Bei der Ankunft der „Buchenwaldkinder“ in der Schweiz waren die Behörden und die Presse überrascht über das Alter der Geretteten. Eigentlich sollten nur Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre mithilfe der humanitären Hilfsaktion in die Schweiz gebracht werden, doch auch heimatlose junge Erwachsene brauchten eine Zukunftsperspektive.

(Schweizerisches Bundesarchiv)

„Buchenwaldkinder“ in Genf, 1945/46.

Neben der Erholung erlernten die Jugendlichen in den OSE-Heimen auch Ausbildungsberufe, um sich ein neues Leben aufbauen zu können. Auf diesem Gruppenfoto vor dem Hôme de la Forêt in Genf sind unter anderem Gert Silberbard, Gilles Segal and Norbert Bikales abgebildet.

(United States Holocaust Memorial Museum)

Neue Unterkunft in der Schweiz: Hôme de la Forêt in Genf, 1945/46.

Die Kinder und Jugendlichen aus Buchenwald, die von der Schweiz aufgenommen wurden, waren in verschiedenen Waisenhäusern und Erholungsheimen untergebracht. In Genf stand das Hôme de la Forêt zur Verfügung, die Hilfsorganisation OSE (Oeuvre de Secours aux Enfants) war für die Betreuung zuständig.

(United States Holocaust Memorial Museum)

„Es war eine große Anstrengung, uns ins Leben zurückzuholen.“ Bericht von Shraga Milstein über den Transport nach Schweden, Februar 2021.

Shraga Milstein wurde im Herbst 1944 als 11-Jähriger aus einem Zwangsarbeitslager in Polen mit seinem jüngeren Bruder und seinem Vater in das KZ Buchenwald verschleppt. Der Vater starb dort; die Brüder wurden im Januar 1945 getrennt, als Shraga Milstein nach Bergen-Belsen überstellt wurde. Beide Brüder überlebten und kamen im Sommer 1944 mit einer Gruppe anderer überlebender Kinder nach Schweden.

(Gedenkstätte Buchenwald)

Internat Torekulls in Billesholm, Schweden, 1946.

In dem Internat waren 1945 bis 1947 die Brüder Milstein und andere Kinder aus befreiten Lagern untergebracht.

(Dansk Jødisk Museum)

NACH DER BEFREIUNG


Erich Davidsohn
Als jugendlicher „Aktionsjude“ in Buchenwald

zugang

Erich Davidsohn kommt 1922 als einziges Kind von Robert und Elfriede Davidsohn in Hannover auf die Welt. Er wächst im niedersächsischen Salzhemmendorf (Landkreis Hameln) auf. Die Davidsohns betreuen die kleine Synagoge, im Ort sind sie neben einer anderen Familie die einzigen Juden. 1935 beginnt Erich eine Lehre in der Schlachterei seines Vaters.

In den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 plündern SA-Männer die örtliche Synagoge und zerstören die Inneneinrichtung. Erich Davidsohn und sein Vater werden in „Schutzhaft“ genommen und über das Zuchthaus Hameln nach Buchenwald deportiert. Dort werden ihnen die Köpfe geschoren, der Alltag wird durch tägliche Schläge und Hunger bestimmt.

Anfang Dezember 1938 entlässt die SS den 16-jährigen Erich Davidsohn, vermutlich wegen seines jugendlichen Alters, aus dem KZ Buchenwald. Sein Vater folgt wenige Tage später. Am 6. Februar 1939 gelingt Erich die Auswanderung nach England. Vater, Mutter und die Cousine wandern nach Argentinien aus.

Erich (links) zusammen mit seiner Mutter Elfriede, dem Vater Robert Davidsohn sowie seiner Cousine Juliane Guttmann in Hannover, 1939.

Bereits 1935 hatte sich der Vater Robert Davidsohn um eine Ausreise seiner Familie nach Südamerika bemüht. Doch erst am 16. Juni 1939, einige Monate nach seiner Rückkehr aus Buchenwald, gelang es ihm, gemeinsam mit seiner Frau Elfriede und Nichte Juliane nach Buenos Aires zu reisen. Erich Davidsohn reiste bereits im Februar 1939 nach England aus. Seine Mutter hatte ihn für einen „Kindertransport“ angemeldet, während er in Buchenwald inhaftiert war. Seine Eltern hat er nie wiedergesehen.

(privat/Mel Davidson)

Erich Davidsohn, wenige Tage nach seiner Entlassung aus dem KZ Buchenwald, Dezember 1938.

(privat/Mel Davidson)

„Nach der ersten Woche wurden die Namen aufgerufen und die Freigaben begannen. Am Morgen des 6. Dezember wurde mein Name aufgerufen. Man musste zum Tor eilen, sonst verpasste man die Entlassung. Eine kurze Verabschiedung mit meinem Vater und ich war weg. Wir mussten den ganzen Tag in der Nähe der Büros in der Schlange stehen und uns nicht bewegen. Es gab kein Essen und, was das Schlimmste war, wir durften nicht auf die Toilette gehen. Dann wurde uns Geld für die Bahnfahrt gegeben und wir wurden mit Bussen zum Bahnhof gebracht. Einige von uns stiegen direkt in den Zug nach Hannover und wir kamen mitten in der Nacht an. Die anderen Leute im Zug hielten sich von uns fern, vielleicht weil sie wussten, wer wir waren und wo wir gewesen waren. Und natürlich waren wir sehr schmutzig und haben buchstäblich gestunken.“

Erich Davidsohn erinnert sich an seine Entlassung aus dem KZ Buchenwald, nach 1939.

(https://pogrome1938-niedersachsen.de/salzhemmendorf/)

Stolperstein in Salzhemmendorf für Erich Davidsohn, 7. März 2020.

(CC)

Weiterführende Informationen:

Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Pogrome 1938 in Niedersachsen, Salzhemmendorf:
pogrome1938-niedersachsen.de.

Verschleppt ins KZ


„Aktion Arbeitsscheu Reich“ 1938

zugang

1938 verdoppelten sich die Häftlingszahlen in den Konzentrationslagern. Im Rahmen der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ (ASR) wies die Polizei über 10.000 Männer und einige hundert Frauen als angeblich “asozial” in die Lager ein – überwiegend Erwachsene, aber auch einige Jugendliche. Etwa 4000 Männer kamen nach Buchenwald, darunter etwa 1200 Juden. Die mit einem schwarzen Häftlingswinkel Markierten bildeten kurzzeitig die Mehrheit im Lager.

Als “asozial” oder auch “gemeinschaftsfremd” galten alle, die außerhalb der propagierten “Volksgemeinschaft” standen, etwa Arbeitslose, Bettler:innen, Landstreicher:innen sowie als „Zigeuner“ Verfolgte. Die Polizei arbeitete bei den Verhaftungswellen eng mit den Arbeits- und Wohlfahrtsämtern zusammen.

Erst im Jahr 2020 erkannte der Bundestag die als asozial Verfolgten als NS-Opfer an.

„Man nennt sie die Arbeitsscheuen. Es ist uns verboten, mit ihnen zu sprechen. Meistens sind es Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, denen man hier im Lager das Arbeiten lernen will. Sie bekommen schwarze Markierung. […] Junge Menschen mit spindeldürren Beinen sollen hier unter Aufsicht der sattgefütterten SS das Arbeiten lernen. […] Die Unterbringung der „Arbeitsscheuen“ ist die Schändlichkeit selbst. In aller Eile ist eine große Baracke unterhalb der anderen Baracken aufgeschlagen, in der fast alle Inneneinrichtung fehlt. So hausen sie und sterben massenweise.“

Bericht vom politischen Häftling Moritz Zahnwetzer über die Ankunft der Verhafteten der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ in Buchenwald 1938, 1946.

(Moritz Zahnwetzer: KZ Buchenwald. Erlebnisbericht Kassel 1946)

Häftlingspersonalkarte von Kurt Ansin, 1938.

Kurt Ansin wurde im Juni 1938 im Alter von 16 Jahren als „Zigeuner“ in das KZ Buchenwald eingewiesen. Seine Karteikarte stempelte die SS mit dem Kürzel „A.S.R.“ (Aktion Arbeitsscheu Reich). Kurt Ansin musste auf seiner Häftlingskleidung den schwarzen Winkel der sogenannten „Asozialen“ tragen.

(Arolsen Archives)

Stärkemeldung des KZ Buchenwald, 13. September 1938.

Mehr als die Hälfte der an diesem Tag insgesamt 7.658 Lagerinsassen waren „ASR“-Häftlinge.

(Staatsarchiv Weimar)

„Merkblatt zur Erfassung der Gemeinschaftsunfähigen“, Rassenpolitisches Amt Steiermark, Dezember 1942.

Zur Ideologie der „Volksgemeinschaft“ gehörte neben dem Rassismus auch der Leistungsgedanke. Menschen ohne Arbeit wurden als „unwert“ und als Ballast angesehen, weshalb sie durch Zwangsarbeit „diszipliniert“ werden sollten. Dabei wurde der Begriff „gemeinschaftsunfähig“ sehr weit gefasst.

(Landesarchiv Steiermark)

„Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“. Erlass des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrich an die Kriminalpolizeileitstellen, 1. Juni 1938.

Die KZ-Einweisungen sogenannter Asozialer erfolgten 1938 in zwei Wellen. Der Erlass vom 1. Juni 1938 bildete die Grundlage der zweiten Verhaftungswelle im Juni 1938, der sogenannten Juni-Aktion.

(StA Marburg)

Jugend im KZ Buchenwald


Das Lager

zugang

Im Juli 1937 trafen die ersten Häftlinge auf dem Ettersberg bei Weimar ein. Die SS zwang sie, ein Konzentrationslager für 8.000 männliche Häftlinge zu erbauen. Sowohl politische Gegner des Regimes als auch aus rassistischen und sozialen Gründen Verfolgte sollten dort interniert werden.

Das KZ Buchenwald entwickelte sich bis zum Kriegsende zum Mittelpunkt eines komplexen Lagersystems mit insgesamt 139 Außenlagern, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie leisten mussten. Insgesamt waren in Buchenwald rund 280.000 Menschen inhaftiert, mehr als 56.000 starben.

In Buchenwald und seinen Außenlagern waren nicht nur Männer, sondern auch Frauen, Jugendliche und Kinder inhaftiert. Letztere waren besonders gefährdet, denn als Arbeitsunfähige hatten sie kaum Überlebenschancen. Um sie vor Zwangsarbeit und Deportationen in den Tod zu schützen, errichteten politische Häftlinge in ausgewählten Baracken Schutzräume für Kinder und Jugendliche.

Ankunft der ersten Häftlinge aus dem KZ Sachsenhausen im neuen KZ Buchenwald, Juli 1937.

Die Häftlinge wurden gezwungen, den Wald zu roden und sich ihre Baracken selbst zu errichten.

(Foto: Kriminalpolizeistelle Weimar, Gedenkstätte Buchenwald)

Jenseits des Stammlagers: Ein dichtes Netz aus Außenkommandos.

Die meisten Außenlager des KZ Buchenwald entstanden nach der Kriegswende ab 1942. Häftlinge wurden zu Aufräumungsarbeiten in den Städten und zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie eingesetzt.

(Studio IT’S ABOUT)

Innenraum des Krematoriums des KZ Buchenwald, 1943.

Bis 1940 wurden die Leichen der Häftlinge vom KZ Buchenwald im Städtischen Krematorium in Weimar verbrannt und registriert. Um die steigende Anzahl an Ermordeten zu verschleiern, wurde im KZ Buchenwald ab Sommer 1940 ein eigenes Krematorium errichtet. Die Verbrennungsöfen stammen von der Erfurter Firma Topf & Söhne, die auch die Verbrennungsöfen für das KZ Auschwitz herstellte.

Das Foto stammt aus einem Album, das Lagerkommandant Hermann Pister zu Repräsentationszwecken anlegen ließ.

(Musée de la Résistance et de la Deportation)

SS-Angehörige warten am KZ Buchenwald auf die Abfahrt eines Busses nach Weimar, 1942.

Eine Buslinie fuhr mehrmals täglich von Weimar zum KZ Buchenwald und verband beide Orte. Buchenwald und die Stadt Weimar waren eng miteinander verflochten.

(Gedenkstätte Buchenwald)

Kinder von SS-Angehörigen posieren vor einer Spielzeugkanone in der „Führersiedlung“ des KZ Buchenwald, 1943.

Auf dem Ettersberg lagen die Kasernen und Wohnsiedlungen der SS nur wenige Meter vom Lager entfernt. In der Führersiedlung wohnten die SS-Offiziere mit ihren Familien.

(Foto: Georges Angéli, Gedenkstätte Buchenwald)

Lagerstraße und Baracken im Kleinen Lager, nach der Befreiung, April/Mai 1945.

Im Kleinen Lager, das 1942 als Quarantänestation für Massentransporte eingerichtet wurde, herrschten katastrophale Bedingungen. Ab 1944 war es dauerhaft überfüllt; es herrschten Hunger und Tod. Politische Häftlinge schafften es, im Kleinen Lager mit Block 66 einen Zufluchtsort für zumeist jüdische Jugendliche einzurichten.

(Foto: Alfred Stüber, Privatbesitz)

Jurek Kestenberg über seine Erinnerungen an Buchenwald im Interview mit David P. Boder, Fontenay-aux-Roses (Frankreich), 31. Juli 1946.

Jurek Kestenberg wurde 1929 in Polen geboren und 1943 gemeinsam mit seinen Eltern vom Warschauer Ghetto nach Majdanek verschleppt. Im August 1944 wurde er nach Buchenwald deportiert. Dort überlebte er dank der Hilfe von Mitgefangenen. Nach der Befreiung reiste er im Juni 1945 mit einem Kindertransport nach Frankreich, wo Boder ihn auf Jiddisch befragte.

(„Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology)

Weiterführende Informationen:

Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Historischer Überblick zur Geschichte des KZ Buchenwald von 1937-1945:
buchenwald.de.

Förderverein Buchenwald e.V.: „Buchenwald war überall – die Errichtung eines Netzwerkes der Außenlager“:
aussenlager.buchenwald.de.

„Gedenksteine Buchenwaldbahn. Ein Projekt der Initiative „Gedenkweg Buchenwaldbahn“:
gedenksteine-buchenwaldbahn.de.

Jugend im KZ Buchenwald


DP-Lager und Kibbuz Buchenwald

zugang

Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs verschleppten die Deutschen mehrere Millionen Menschen in das Deutsche Reich. Die Alliierten registrierten sie nach der Befreiung als „Displaced Persons“ (DP) und organisierten die Rückkehr in die Herkunftsländer. Als DPs galten nicht nur die KZ-Überlebenden, sondern auch befreite zivile Zwangsarbeiter:innen vor allem aus Osteuropa.

In allen Besatzungszonen Deutschlands wurden nach Kriegsende sogenannte DP-Camps errichtet, so auch in den befreiten Lagern Buchenwald und Mittelbau-Dora. Insbesondere bei den zumeist jüdischen Waisenkindern war eine Repatriierung jedoch nicht möglich. Einige von ihnen gründeten den „Kibbuz Buchenwald“, um sich auf die gemeinsame Ausreise nach Palästina vorzubereiten und dort ein jüdisches Gemeindeleben aufzubauen.

Anfang Juli 1945 wurde Thüringen Teil der sowjetischen Besatzungszone. Das DP-Camp Buchenwald wurde in ein „Repatriierungslager“ unter sowjetischer Leitung umgewandelt und im Oktober 1945 aufgelöst.

Alliiertes Banner am Haupteingang des „Displaced Persons Center II“ in Buchenwald, April/Mai 1945.

Nach der Befreiung der Konzentrationslager entstanden in Deutschland, Österreich und Italien etwa 2000 DP-Camps. Auch das ehemalige KZ Buchenwald diente als Aufnahme- und Durchgangslager für ehemalige Häftlinge und Zwangsarbeiter:innen.

(Foto: Alfred Stüber, Gedenkstätte Buchenwald)

Joseph Schleifstein auf einem LKW der UNRRA im DP-Camp Buchenwald, nach dem 11. April 1945.

Das UN-Hilfswerk United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) war für die Betreuung der DP-Camps zuständig und organisierte die Rückführung der Verschleppten in ihre Herkunftsländer. Das Foto des 4-jährigen KZ-Überlebenden Joseph Schleifstein entstand im befreiten Lager Buchenwald.

(United States Holocaust Memorial Museum)

Eine Mitarbeiterin der UNRRA mit Waisenkindern im DP-Camp Dora, 29. Juni 1945.

Im befreiten KZ Mittelbau-Dora wurde ebenfalls ein DP-Camp eingerichtet. Im Mai 1945 waren hier über 20.000 befreite Zwangsarbeiter:innen und einige Hundert KZ-Überlebende untergebracht. Mitarbeiter:innen der UNRRA kümmerten sich um Waisenkinder, deren Eltern als Zwangsarbeiter:innen oder KZ-Häftlinge ums Leben gekommen waren.

(Foto: Edward Vetrone, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Gedenkfeier jüdischer DPs im befreiten Lager Buchenwald, Juni 1945.

Im DP-Camp Buchenwald organisierten Überlebende bereits kurz nach der Befreiung viele kulturelle Veranstaltungen. Dazu gehörten sowohl religiöse Feste und Gottesdienste als auch das Gedenken an die Toten. In der Mitte ist Joseph Schleifstein in seinem gestreiften Häftlingsanzug zu sehen.

(United States Holocaust Memorial Museum)

„Von den Überlebenden wird ein beträchtlicher Teil bemüht sein, in Palästina eine neue Heimat zu finden. Nach den unsäglichen Leiden, das diese Menschen erduldet haben, ist es Pflicht der zionistischen Öffentlichkeit, dafür zu kämpfen, dass diesen Zionisten baldigst die Möglichkeit geboten wird, nach Eretz Israel einzuwandern. […] Erwirket Sonderzertifikate für Kinder und Jugendliche, die sich noch […] in den Lagern befinden und zum überwiegenden Teil Waisen sind. Schaffet für diese Kinder die Möglichkeit einer Hachschara in Westeuropa, da sie sonst bei Rückkehr in ihre frühere Heimat der öffentlichen Fürsorge zur Last fallen würden. Rettet den Rest der jüdischen Jugend Mitteleuropas!“

„Erwirket Sonderzertifikate für Kinder und Jugendliche“. Aufruf des Jüdischen Hilfsausschuss, 22. April 1945.

Palästina war eines der Hauptziele für die Auswanderung jüdischer Überlebender. Bis zur Staatsgründung Israels im Mai 1948 stand das Land noch unter britischem Mandat, die Einreise war streng reguliert. Die zionistische Bewegung hatte bereits in den 1920er Jahren sogenannte Hachschara-Einrichtungen gegründet, um die Auswanderung mit landwirtschaftlicher Ausbildung vorzubereiten.

(Ghetto Fighters’ House – Beit Lochamei HaGeta’ot )

Jugendliche Mitglieder des Kibbuz Buchenwald singen im Außenbereich des Gehringshofes Partisanenlieder, Sommer 1946.

Der Kibbuz Buchenwald auf dem Gehringshof bestand von Juni 1945 bis Oktober 1948. Während der Vorbereitungen zur Ausreise nach Palästina fanden dort vielseitige Kulturveranstaltungen statt. 1948 zog der Kibbuz nach Israel um und nannte sich 1950 in Netzer Sereni um. 1999 wurde der Kibbuz aufgelöst.

(Foto: David Marcus, United States Holocaust Memorial Museum)

Kibbuz Buchenwald. Gruppenfoto vor der landwirtschaftlichen Ausbildungsstätte in Gehringshof, 1946.

Am 3. Juni 1945 wurde in Egendorf bei Weimar von jüdischen Überlebenden der „Kibbuz Buchenwald“ gegründet. Bevor Thüringen im Juli 1945 Teil der sowjetischen Besatzungszone wurde, zogen die etwa 50 größtenteils jugendlichen Mitglieder in den Gehringshof in der Nähe von Fulda um. Der Kibbuz Buchenwald (in hebräischen Lettern an die Hauswand geschrieben) diente der Vorbereitung auf die Ausreise nach Palästina.

(United States Holocaust Memorial Museum)

Weiterführende Informationen:

Juliane Wetzel: Displaced Persons (DPs), in: Historisches Lexikon Bayerns,
historisches-lexikon-bayerns.de.

NACH DER BEFREIUNG


Befreit in Buchenwald und Mittelbau-Dora

zugang

Im Herbst 1944 begann die SS die Lager im Osten zu räumen. Zehntausende Häftlinge gelangten mit Räumungstransporten u.a. aus Auschwitz nach Buchenwald und Mittelbau-Dora. Darunter befanden sich auch viele Kinder und Jugendliche.

Anfang April 1945 erreichte die US-Armee Thüringen. Nun begann die SS mit der Räumung von Buchenwald und Mittelbau-Dora. Fast 70.000 Menschen trieb sie Richtung Dachau, Theresienstadt oder Bergen-Belsen. Viele überlebten die Fußmärsche und Bahntransporte nicht.

Am 11. April erreichten amerikanische Panzer den Ettersberg und zwangen die SS in die Flucht. Politische Häftlinge übernahmen die Kontrolle über das Lager. Damit war Buchenwald von außen und innen befreit. Unter den befreiten Menschen befanden sich knapp 900 Kinder und Jugendliche.

Im Südharz gelang es der SS, fast alle Lager des KZ Mittelbau vollständig zu räumen. Lediglich in den Lagern Dora und Boelcke-Kaserne blieben einige Hundert Kranke und Sterbende zurück. Sie wurden am 11. April von der US-Armee befreit.

„Was wird dann geschehen? Werden wir evakuiert? Aber wohin? Im Süden stoßen sie auf Halle zu... Im Norden nähert sich eine andere Angriffsspitze Hannover. Richtung Osten? Sicher nicht weit, denn 300 Kilometer von uns entfernt ist die russische Front. Wir haben große Furcht vor der Evakuierung, denn wir wissen, wie diejenigen aus Auschwitz und Groß-Rosen während des Transportes gelitten haben.“

Tagebucheintrag von Emile Delaunois, 1. April 1945.

Je näher die Befreiung rückte, desto unsicherer wurde die Lage für die Häftlinge. Sie fürchteten Todesmärsche und Massaker durch die SS. Emile Delaunois (geboren 1910 als Louis Lelong), war Schreiber im Außenlager Woffleben des KZ Mittelbau-Dora. Er starb kurz nach der Befreiung im KZ Bergen-Belsen.

(KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Ermordete Häftlinge im Nordlager des Außenlagers Ohrdruf, 6. April 1945.

Anfang April begann die SS die Außenlager von Buchenwald zu räumen. Die Gefangenen schickte sie auf Transporte zurück ins Stammlager. In mehreren Außenlagern ermordete sie marschunfähige Häftlinge, so auch in Ohrdruf. In dem geräumten Lager rückten amerikanische Soldaten am 6. April 1945 ein.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Am nächsten Tag, dem 10. April, sollte auch unser Komplex evakuiert werden. Wir versteckten uns, wo wir konnten – im Hohlraum zwischen der Verschalung und Verkleidung der Barackenwand, im dunklen, muffigen und engen Raum unter dem Fußboden, unter und in den stickigen Strohsäcken, oder wir quetschten uns in irgendeine stinkende, mit Ungeziefer verseuchte Abwassergrube und weigerten uns, den Block zu verlassen.“

Bericht von Thomas Geve über sein Versteck im Kleinen Lager von Buchenwald, 1993.

Auch die Kinder und Jugendlichen aus Block 66 sollten kurz vor der Befreiung auf Transport gehen. Viele konnten sich verstecken und wurden, wie Thomas Geve (geboren 1929 als Stefan Cohn), am 11. April in Buchenwald befreit. Andere zwang die SS auf Todesmärsche, bei denen einige wenige unterwegs fliehen konnten oder von den Alliierten befreit wurden.

(Thomas Geve, Geraubte Kindheit, Konstanz 1993)

„Wir sind frei“, Zeichnung von Thomas Geve, Juni 1945.

Thomas Geve hielt seine KZ-Erfahrungen nach der Befreiung zeichnerisch fest. Ein Bild zeigt die Befreiung am 11. April in Buchenwald.

(Yad Vashem)

„Kameraden, wir haben das Lager in unserer Hand!“
Bericht von Rolf Kralovitz über die Befreiung, 1995.

Rolf Kralovitz war am Tag der Befreiung 19 Jahre alt und befand sich im Hauptlager. In diesem Interview berichtet er, wie er die Befreiung von „innen“ wahrgenommen hat.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Als Nachmittag die Tür aufging und es kamen zwei Uniformierte rein und diese Uniformen, die waren anders als diese, wo ich gewöhnt war zu sehen während sechs Jahren. Aber es sind nicht nur die Uniformen, sondern das Benehmen dieser zwei Soldaten hat mir zu Verstehen gegeben, dass ich endlich frei war. Tränen der Freude sind mir dann im Hals stecken geblieben.“

Erinnerung von Leon Reich an seine Befreiung in Buchenwald, 2015.

Anders als die Häftlinge im Hauptlager bekamen die Kinder und Jugendlichen im Block 66 des Kleinen Lagers nur wenig von den Vorgängen am Tag der Befreiung mit. Leon Reich erinnert sich in einem Interview für den MDR-Film „Die Kinder von Buchenwald“ an diesen Moment.

(MDR/Gedenkstätte Buchenwald)

Stefan Jakubowicz (heute Stephen B. Jacobs) während eines Appells nach der Befreiung, 1945.

Am Tag der Befreiung war Stefan Jacubowicz fünf Jahre alt. Er war mit seinem Vater und Bruder im Dezember 1944 nach Buchenwald verschleppt worden und hatte Dank der Unterstützung von politischen Häftlingen im Kleinen Lager überlebt. Im Juni 1945 wird er im Rahmen der Schweizer Hilfsaktion mit 300 anderen Kindern in die Schweiz gebracht. 2002 entwarf er das Denkmal für die Opfer des Kleinen Lagers in der Gedenkstätte Buchenwald.

(Gedenkstätte Buchenwald)

Befreite Häftlinge in der Boelcke-Kaserne in Nordhausen, 11. April 1945.

Im Außenlager Boelcke-Kaserne befreiten amerikanische Soldaten einige Hundert Häftlinge, darunter auch einige Kinder und Jugendliche. Amerikanische Sanitäter kümmerten sich um die Befreiten.

(Foto: Roberts, NARA)

Befreites Kind in der Boelcke-Kaserne in Nordhausen, April 1945.

(KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Befreiter jugendlicher Häftling vermutlich in der Boelcke-Kaserne in Nordhausen, April 1945.

(United States Holocaust Memorial Museum)

„Es gab im Lager noch einige gehfähige Häftlinge, die sich vor der Räumung des Lagers im Krankenrevier versteckt hatten und nun begannen, etwas zu ‚organisieren‘. Sie verließen das Lager und brachten Brot, Milch, Butter, Speck, Kartoffeln und sogar Zigaretten mit, die sie in einer Fabrik in Nordhausen gefunden hatten.“

Bericht von Roger de Coster, um 1991.

Der damals 16-jährige Belgier gehörte zu rund 80 Häftlingen, die am 11. April 1945 von amerikanischen Soldaten im Krankenrevier des Lagers Dora befreit wurde.

(KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Befreiungen


Freundschaft
Eltern
Geschwister

Um zu überleben, brauchten Kinder und Jugendliche in den Lagern die Hilfe von Freund:innen, Familienangehörigen oder erwachsenen Mitgefangenen. Gerade für die Kinder waren Bindungen zu anderen Menschen wichtig, um den Lebenswillen nicht zu verlieren. Beziehungen halfen bei der Beschaffung von Essen und Kleidungstücken. Lebensrettend konnte es sein, mit Hilfe von Funktionshäftlingen einem leichteren Arbeitskommando zugewiesen zu werden.

Die meisten Kinder und Jugendlichen kamen alleine nach Buchenwald oder Mittelbau-Dora. Nur wenige waren in Begleitung ihrer Eltern oder Geschwister. Manche erlitten in den Lagern den Verlust ihrer Angehörigen.

„Und hier unten werde ich das Datum eintragen, wenn ich meine teure und geliebte Mutter und meinen Vater in Gesundheit wiedersehen werde“. Auszug aus den Aufzeichnungen von Alex Hacker, 10. Februar 1945.

In einem heimlich geführten Tagebuch gestaltete Alex Hacker bereits während der Haft im KZ Mittelbau-Dora einen Eintrag für den Tag seiner Heimkehr. Für das Datum ließ er eine Lücke stehen. Als er am 28. August 1945 in seine Heimatstadt Budapest zurückkehrte, konnte er die Leerstelle füllen.

(privat)

Ludwig Hamburger:
Das einzige Gute war, wir haben den Mut nicht verloren.
David Boder:
Sie haben den Mut nicht verloren – wie ist das gekommen?
Ludwig Hamburger:
Ich hab‘ immer im Sinn gehabt meine Eltern […] Wie ich ein Kind war [...] ja den Mut darf man nicht verlieren und ich habe immer meine Mutter gehört und an meine Mutter gedacht.

Ludwig Hamburger im Interview mit David P. Boder, 28. August 1946.

Ludwig Hamburger wurde 1927 in Katowice (Polen) geboren. Von dort wurde er 1941 gemeinsam mit anderen Jugendlichen in das KZ Auschwitz deportiert. Im Winter 1944 schickte ihn die SS auf einen Todesmarsch nach Buchenwald. Dort erlebte er die Befreiung und kam mit einem Hilfstransport in ein Auffanglager in Genf (Schweiz), wo David Boder ihn 1946 befragte. Seine Mutter sah er nach 1941 nicht mehr wieder.

(„Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology)

Naftali Fürst (links) und sein Bruder Shmuel in Bratislava, 1936.

Die Brüder Naftali und Schmuel Fürst kamen im Januar 1945 aus Auschwitz nach Buchenwald. Beide konnten durch die Hilfe von Funktionshäftlingen im Kinderblock 66 im Kleinen Lager untergebracht und dort geschützt werden. Naftali wurde dort am 11. April befreit, sein Bruder Schmuel wurde von der SS auf einen Todesmarsch getrieben und erst Anfang Mai 1945 befreit. Beide trafen sich im Sommer 1945 in Bratislava wieder.

(privat)

„Ich sage immer, dass in den Lagern die leichteste Sache war zu sterben, aufgeben und sterben. Die schwere Sache war weitermachen und kämpfen. Und da mussten wir kämpfen für unser Leben und jeder Schritt war Kampf. Und da kann ich auch sagen, ich bin überzeugt, dass darum, dass wir waren zwei Brüder zusammen, hat uns sehr geholfen. Wenn ich möchte allein sein, zehn Jahre alt, elf Jahre altes Kind, ich glaube ich könnte das nicht mitmachen, weil das war schrecklich. Wir waren todmüde, todhungrig, nass, das kann man sich nicht vorstellen.“

Naftali Fürst im Interview in Haifa, 2009.

Die beiden Brüder Naftali und Shmuel Fürst überlebten im Winter 1945 unter widrigsten Bedingungen den Todesmarsch aus dem KZ Auschwitz nach Buchenwald. Der Zusammenhalt der Brüder half ihnen im Kampf ums Überleben.

(erinnern.at)

Freundschaft im Konzentrationslager: Ludwig Hamburger im Interview mit David P. Boder, 26. August 1946.

Ludwig Hamburger und sein Freund überlebten einen Todesmarsch vom KZ Auschwitz nach Buchenwald und wurden dort befreit. Sie gingen anschließend gemeinsam in die Schweiz.

(„Voices of the Holocaust“, Illinois Institute of Technology)

Befreite jüdische Kinder in Buchenwald, 20. April 1945.

Zweiter von rechts in der zweiten Reihe ist Markus Milstein. Sein Bruder Shraga wurde im Januar 1945 nach Bergen-Belsen gebracht und dort befreit. Die Milstein-Brüder stammten wie andere Jungen auf dem Foto aus Piotrków Trybunalski und blieben in Buchenwald als Gruppe zusammen. Zu der Gruppe gehörte auch Israel Meir Lau (vordere Reihe, zweiter von rechts). Er war von 1993 bis 2003 aschkenasischer Oberrabbiner des Staates Israel.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Die Gruppe – das hat sehr geholfen, die Zeit zu überstehen“. Bericht von Shraga Milstein, Februar 2021.

Im Interview erwähnt er das Foto aus Buchenwald, auf dem sein befreiter Bruder Markus zu sehen ist.

(Gedenkstätte Buchenwald)

„Und ich habe mich mit diesem Jungen angefreundet. Das war Ende 1942. Ende 1944 oder Januar 1945, als ich in den Kinderblock in Buchenwald komme, ist dieser Junge auch dort. Ich erkenne ihn, und er erkennt mich, nach fast zwei Jahren. Wir sagen nichts. Das erste, was er macht: er nimmt die Hälfte seines Brotes und gibt sie mir. Und wissen Sie, ein Stück Brot in Buchenwald, das ist, kann ich Ihnen sagen, das Leben.“

Ein Stückchen Brot. Jack Aizenberg im Interview mit der USC Shoah Foundation, 8. Juli 1997.

Jack Aizenberg wurde als 16-jähriger im Winter 1944 nach Buchenwald deportiert. Dort kam er zusammen mit anderen Jugendlichen in den Kinderblock 66. Nach der Befreiung emigrierte er nach Manchester (England), wo er gemeinsam mit anderen ehemaligen Buchenwaldhäftlingen in ein Heim kam. Einige Zeit wohnte er dort auch mit seinem Freund Pinchas Koronitz zusammen, den er in Buchenwald kennengelernt hatte.

(Visual History Archive)

Erfahrungsräume


Kurt Ansin
Ein Sinto aus Magdeburg

zugang

Kurt Ansin wird am 2. Oktober 1921 geboren. Er wächst in Magdeburg auf. Die dort lebenden Sinti:zze werden ab Mitte der 1930er Jahre aus dem städtischen Leben verbannt und dauerhaft unter Polizeiaufsicht gestellt. Familie Ansin muss ab 1938 im „Zigeunerlager“ Holzweg leben.

Im Zuge der „Aktion Arbeitsscheu Reich“ verhaftet die Kriminalpolizei Kurt Ansin im Juni 1938 und weist ihn zusammen mit seinem Vater in das KZ Buchenwald ein. Dort stirbt der Vater. Kurt Ansin wird 1939 entlassen und kehrt nach Magdeburg zurück. 1943 wird er jedoch erneut verhaftet und mit seiner Familie in das „Zigeuner-Familienlager“ Auschwitz-Birkenau deportiert. Von dort überstellt ihn die SS 1944 über Buchenwald in das Außenlager Ellrich-Juliushütte des KZ Mittelbau-Dora.

Kurt Ansin überlebt, doch fast alle Angehörigen wurden ermordet. Kurt Ansin heiratet und gründet eine Familie mit acht Kindern. 1984 stirbt er mit nur 61 Jahren an den körperlichen und seelischen Folgen seiner Lagerhaft.

(Bundesarchiv)

Kurt Ansin, Februar 1940.

Mitarbeiter der „Rassenhygienischen Forschungsstelle“ unter der Leitung von Robert Ritter und Eva Justin nahmen dieses Foto von Kurt Ansin im Magdeburger Zwangslager auf. Kurz zuvor hatte die Magdeburger Polizei alle Sinti:zze als angeblich Kriminelle erfasst und eine „Zigeunerkartei“ angelegt.

(Gedenkstätte Buchenwald)

Kurt Ansin (rechts) im Alter von 15 Jahren mit einem Freund, 1937.

Bis 1938 lebte Kurt Ansin zusammen mit seiner Familie in Dessau-Roßlau. Er gehörte zu den wenigen Überlebenden der dortigen Minderheit der Sinti:zze. Sein gleichaltriger Freund neben ihm wurde, wie auch seine Geschwister, in Auschwitz ermordet.

(Hanns Weltzel/ University of Liverpool Library)

Das „Zigeunerlager“ am Großen Silberberg in Magdeburg.

Im Mai 1935 wurde durch die Stadt Magdeburg das „Zigeunerlager“ Magdeburg Holzweg eingerichtet, in das Kurt Ansin zusammen mit den anderen Sinti*zze aus Anhalt kurz vor seiner Verhaftung 1938 abgeschoben wurde. In dem Lager lebten die Sinti*zze unter elenden Bedingungen und ständiger Überwachung durch die Polizei.

(Stadtarchiv Magdeburg)

Von Auschwitz zurück nach Buchenwald. Häftlingspersonalkarte von Kurt Ansin, 17. April 1944.

Im April 1944 wurde Kurt Ansin von der SS aus Auschwitz erneut nach Buchenwald und wenig später in die KZ-Außenlager Ellrich-Juliushütte und Harzungen geschickt. Dort musste er auszehrende Zwangsarbeit auf Baustellen leisten.

(Arolsen Archives)

„Mein Großvater war der einzige Überlebende von elf Geschwistern. Nur seine Mama und er sind übrig geblieben. Das muss man sich vorstellen: Die wollten uns wirklich ausradieren. Mein Großvater war später ein gebrochener und kaputter Mann. Aber wir sind ein sehr stolzes Volk. So war es das Ziel meines Großvaters, wieder einen großen Clan aufzubauen – auf dass wir wieder ganz viele werden.“

Bericht von Janko Lauenberger über seinen Großvater Kurt Ansin, August 2012.

Kurt Ansin zählte zusammen mit seiner Mutter Anna Donna Ansin und Adelheid Krause zu den drei einzigen Überlebenden des Magdeburger „Zigeunerlagers“. Trotzdem wurde er in der DDR zunächst nicht als Verfolgter des NS-Regimes anerkannt. Sein Enkel erinnert an die Familiengeschichte.

(TAZ)

Kurt Ansin und seine Frau Helene, genannt Kaula, undatiert (1970er Jahre).

Nach dem Krieg lebte Kurt Ansin mit seiner Familie in Berlin. Seine Frau Helene war eine Cousine von Erna Lauenburger, Spitzname Unku, die als Vorbild für den Roman „Ede und Unku“ von Grete Weißkopf diente.

(Reimar Gilsenbach)

Weiterführende Informationen:

Kurt Ansin. Ein Sinto aus dem Lager Magdeburg Holzweg (Audio)
buchenwald.de.

Verschleppt ins KZ