Verschleppt aus Auschwitz in den Harz: Jüdische Kinder sowie junge Sinti und Roma

Jugend iM KZ Mittelbau-Dora

Im April 1944 begann die Räumung des „Zigeuner-Familienlagers“ Auschwitz-Birkenau. Bis August 1944 überstellte die SS etwa 1500 männliche Sinti und Roma in das KZ Mittelbau-Dora. Unter ihnen waren viele Jugendliche, teilweise auch Kinder. Fast alle wurde in die Außenlager Ellrich-Juliushütte und Harzungen gebracht, wo sie wie die Erwachsenen kräftezehrende Zwangsarbeit auf Baustellen leisten mussten.

Im Juni 1944 deportierte die SS 1000 ungarische Juden von Auschwitz in den Harz. Mehr als ein Drittel von ihnen war noch nicht erwachsen, der Jüngste war 12 Jahre alt. Die meisten brachte die SS in das berüchtigte Außenlager Ellrich-Juliushütte. Im November 1944 zählte man dort 260 ungarisch-jüdische Kinder und Jugendliche.

Ab Januar 1945 erhöhte sich die Zahl von jungen jüdischen Häftlingen in den Mittelbau-Lagern mit der Ankunft von Räumungstransporten aus Auschwitz weiter. Der jüngste Häftling war Herbert Noah. Er wurde zwei Tage vor der Ankunft in Dora im Transportwaggon geboren. Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt.

Befreites Kind in der Boelcke-Kaserne in Nordhausen, Mitte April 1945.

In der Kaserne hatte die SS im Januar 1945 ein Außenlager des KZ Mittelbau-Dora für nicht arbeitsfähige Häftlinge eingerichtet. Hierher brachte die SS viele der vollkommen erschöpften Häftlinge, die im Januar und Februar 1945 mit Räumungstransporten aus Auschwitz und Groß-Rosen eintrafen.

(KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Häftlingspersonalkarte des KZ Buchenwald für Leo Spiegel, 24. Mai 1944.

Leo Spiegel wurde im Mai 1944 als ungarischer Jude im Alter von 14 Jahren von Auschwitz nach Buchenwald und von dort nach Dora überstellt. Im Juli 1944 brachte ihn die SS in das Außenlager Ellrich-Juliushütte, wo er Zwangsarbeit auf Baustellen verrichten musste.

(Arolsen Archives)

Krankenblatt von Leo Spiegel, Dezember 1944.

Am 24. Dezember 1944 wurde Leo Spiegel aus Ellrich in das Krankenrevier des Lagers Dora überstellt. Dort kam er in den TBC-Block 39 A. Am letzten Tag des Jahres 1944 starb er im Alter von 15 Jahren an Lungentuberkulose.

(Arolsen Archives)

Karteikarte des Krankenreviers im Lager Dora für Sandor Kaufmann, 26. Dezember 1944 bis 6. Februar 1945.

Sandor Kaufmann wurde im Mai 1944 als ungarischer Jude im Alter von nur 12 Jahren von Auschwitz über Buchenwald nach Dora überstellt. Dort musste er Zwangsarbeit im Untertage-Raketenwerk leisten. Er starb am 6. Februar 1945 im Krankenrevier. Sandor Kaufmann ist der zweitjüngste dokumentierte Tote des KZ Mittelbau-Dora.

(Arolsen Archives)

„Mein Cousin, der war auch dort, der war auch Sinto. Und der war sozusagen der Vorarbeiter dort und der hat immer zu mir gesagt: ‚Franz, Du bleibst bei mir, ich pass schon auf.‘ Und der war schon in Ordnung.“

Bericht von Franz Rosenbach, 2005.

Den Sinto Franz Rosenbach (1927-2012) deportierte die SS im April 1944 im Alter von 16 Jahren von Auschwitz über Buchenwald nach Mittelbau-Dora. Viele Sinti und Roma wurden zusammen mit Familienangehörigen ins KZ gebracht. Franz Rosenbach rettete die Hilfe seines Cousins, der einen Funktionsposten hatte.

(Franz Rosenbach, „Der Tod war mein ständiger Begleiter“, München 2005)

Auszug aus den Aufzeichnungen des Überlebenden Alex Hacker, 10. Februar 1945.

Alex Hacker wurde Ende 1944 als 18-jähriger Jude von Ungarn nach Mittelbau-Dora deportiert. Im Lager führte er ein Notizbuch. Eine Seite bereitete er vor, um nach der Befreiung das Datum der Rückkehr zu seinen Eltern eintragen zu können.

Übersetzung: „Und hier unten werde ich das Datum eintragen, wenn ich meine teure und geliebte Mutter und meinen Vater in Gesundheit wiedersehen werde.“

(Privatbesitz Alex Hacker)

Alex Hacker im Displaced-Persons-Camp Bergen-Belsen, 1945.

Im April 1945 kam Alex Hacker mit einem Räumungstransport in das KZ Bergen-Belsen. Dort befreiten ihn die Briten. Im Sommer 1945 traf er seine Eltern in Budapest wieder.

(Privatbesitz Alex Hacker)

Transportliste eines Räumungstransportes mit 512 Frauen von Auschwitz nach Mittelbau-Dora, 28. Januar 1945.

Eintrag für Herbert Neumann: Geburtsort: „KL Mittelbau“, Berufsangabe: „o.B.“ (ohne Beruf). Die Frauen wurden einige Tage später in das KZ Bergen-Belsen weitergeleitet. Das Herbert Noah überlebt hat, ist äußerst unwahrscheinlich.

(Arolsen Archives)

JUGEND IM KZ MITTELBAU-DORA


Vom Raketen- zum Bauunternehmen:
Das Konzentrations­lager Mittelbau-Dora

Jugend iM KZ Mittelbau-Dora

Nach einem britischen Luftangriff auf die Heeresanstalt Peenemünde verlagerte das Rüstungsministerium die Montage der A4/V2-Raketen in eine Stollenanlage bei Nordhausen. Sowohl den Ausbau der Stollen als auch die Raketenmontage sollten KZ-Häftlinge vornehmen.

Am 27. August 1943 trafen die ersten Gefangenen aus dem KZ Buchenwald am Außenkommando „Dora“ ein, um das Rüstungswerk zu errichten. Ab dem Frühjahr 1944 setzte sie die SS für weitere Bauprojekte in der Region ein. Im Herbst 1944 wurde der Komplex zum eigenständigen KZ Mittelbau. Dora wird dessen Hauptstandort.

Jeder dritte der über 60.000 Häftlinge verlor im Lagerkomplex sein Leben. Die meisten starben an Hunger und Krankheit, durch Arbeitsunfälle und Erschöpfung. Aber auch Hinrichtungen gehören zum Alltag der Gefangenen. Am 11. April 1945 befreiten amerikanische Truppen das KZ Mittelbau-Dora. Sie fanden katastrophale Zustände und nur wenige Überlebende vor, darunter einige Kinder und Jugendliche.

Erste Seite der Transportliste von Buchenwald zum Außenkommando Dora, 27. August 1943.

Mit dem ersten Transport erreichten 107 Häftlinge das Außenkommando Dora, darunter auch einige Jugendliche. Bis Weihnachten 1943 erhöhte sich die Zahl der Häftlinge durch weitere Transporte auf über 10.000. Nur wenige deutsche Gefangene befanden sich darunter. Diese übernahmen meist Posten als „Funktionshäftlinge“ und waren gegenüber ihren Mitgefangenen privilegiert, aber auch von der Gunst der SS abhängig. Den größeren Teil der meist als „politisch“ markierten Häftlinge verschleppte die SS aus der Sowjetunion, Polen, Frankreich und anderen besetzten Gebieten.

(Arolsen Archives)

Blick auf das im Bau befindliche Barackenlager, Sommer 1944.

Das eigentliche Lager Dora existierte bei der Ankunft der Häftlinge im Herbst und Winter 1943/44 noch nicht. Die Häftlinge waren untertage untergebracht. Bis Sommer 1944 entstand ein Barackenlager, in dem durchschnittlich 15.000 Menschen untergebracht waren. Ein Häftling fotografierte den Aufbau des Lagers heimlich.

(KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Blick von Norden über das Barackenlager Dora, im Hintergrund die Stadt Nordhausen, April 1945 (nach der Befreiung).

(Foto: Gérard Raphaël Algoet, Ceges/Soma, Brüssel)

„Fertigungshäftlinge“ bei der Montage von Steuerungselementen der V2-Raketen, 1944.

Nach der Fertigstellung des unterirdischen Raketenwerks arbeitete ein Teil der Häftlinge in der Raketenmontage. Da es sich um ausgebildete Facharbeiter handelte, setzte die SS hier nur wenige Jugendliche ein. Das Foto entstand im Auftrag des Rüstungsministeriums. Der KZ-Betrieb sollte vorbildlich dargestellt werden, das Leid wurde ausgeblendet.

(Foto: Walter Frentz, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Postkontrollkarte des KZ Buchenwald für Edvardo Gagnoni, 1. Juli 1944.

Der 15-jährige Schüler aus Aurisina bei Triest (Italien) wurde am 15. Juni 1944 in seinem Heimatort von der deutschen Sicherheitspolizei verhaftet und wenig später als politischer Häftling mit dem Vermerk „Lagerstufe 2“ (verschärfte Haftbedingungen) in das KZ Buchenwald eingewiesen. Am 25. Juli 1944 überstellte ihn die SS in das Außenlager Ellrich-Juliushütte des KZ Mittelbau-Dora. Dort musste er auszehrende Zwangsarbeit auf Untertage-Baustellen leisten und starb am 18. November 1944.

(Arolsen Archives)

Weiterführende Informationen:

Informationen zu den Außenlagern des KZ Mittelbau-Dora:
aussenlager.dora.de

JUGEND IM KZ MITTELBAU-DORA


Gefangen unter Tage:
Der Stollenausbau

Jugend iM KZ Mittelbau-Dora

Bereits in den ersten Transporten, die Buchenwald mit dem Ziel Mittelbau-Dora im Herbst 1943 verließen, befanden sich vereinzelt Jugendliche. Fast ausnahmslos waren sie als politische Häftlinge registriert worden.

Bis zum Frühjahr 1944 mussten die Häftlinge im Außenlager Dora die Stollenanlage für das unterirdische Raketenwerk ausbauen. Anfang 1944 begann im „Mittelwerk“ die Montage der A4/V2-Raketen. Die KZ-Häftlinge mussten sowohl beim Ausbau der Stollenanlage als auch in der Produktion arbeiten.

In den ersten Monaten waren die Häftlinge nicht in Baracken, sondern unter Tage in sogenannten Schlafkammern untergebracht. Tausende fielen den katastrophalen hygienischen Bedingungen im Stollen und der auszehrenden Zwangsarbeit zum Opfer.

Dominik Černý: "K.L. Dora: Wohnen im Stollen" ("Bydlení ve štole"). Holzschnitt, Blatt der Folge "K.L. Dora-Sangerhausen", 1953.

Dominik Černý war ein tschechischer Pädagoge und Künstler. Seine Eindrücke der Bedingungen im Stollen verarbeitete er nach seiner Befreiung künstlerisch in einer Reihe von Holzschnitten. Darin drückte er die Enge, Dunkelheit, die hygienischen Bedingungen und das Sterben seiner Mitgefangenen aus.

(KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Erinnerungen an die Zwangsarbeit im Stollen: Franz Rosenbach im Interview mit der USC Shoah Foundation, Oktober 1998.

Der damals 16-Jährige Sinto Franz Rosenbach kam im April 1944 von Auschwitz-Birkenau über Buchenwald nach „Dora“. Dort musste er Zwangsarbeit beim Stollenvortrieb leisten.

(Visual History Archive)

Ausbau der Stollenanlage des Mittelwerks, Frühsommer 1944.

Das Foto entstand bei den Dreharbeiten für einen von Rüstungsminister Albert Speer in Auftrag gegebenen Propagandafilm über das Raketenprogramm.

(Foto: Walter Frentz, KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora)

Aus dem Stollen in den Tod: Auszug aus der Transportliste vom Kommando Dora nach Lublin, 17. Januar 1944.

Kranke und erschöpfte Häftlinge, die nicht mehr arbeiten konnten, schob die SS zum Sterben in die Konzentrationslager Lublin-Majdanek und Bergen-Belsen ab. Darunter waren auch Jugendliche wie der 18-jährige Jean Antoine und der 17-jährige Felix Le Bacq, Nummern 13 und 24 auf der Liste. Die Spur der beiden Franzosen endet im KZ Majdanek.

(Arolsen Archives)

Michel Fliecx, 1946.

(Stiftung niedersächsische Gedenkstätten)

„Ich lasse Gouju, meinen Landsmann, zu der ‚Box‘ rufen, in der ich liege. Er kommt, und diesen Freund aus guten Tagen in meiner Nähe zu sehen, erfüllt mich mit unschätzbarer Freude; diesen Freund, der meinem Vater getreulich meine letzten Worte und meine letzten Gedanken übermitteln wird. Das ist ein Trost, den viele nicht gehabt haben, die, inmitten gleichgültiger Fremder, einsam in irgendeiner Baracke dieser verfluchten Lager gestorben sind.“

Bericht von Michel Fliecx über die Tage vor seiner Überstellung nach Bergen-Belsen, 1946.

Der Franzose Michel Fliecx war politischer Häftling und 19 Jahre alt, als er im Oktober 1943 in das Lager Dora deportiert wurde. Im März 1944 sonderte ihn die SS als arbeitsunfähig aus und überstellte ihn mit einem „Invalidentransport“ in das KZ Bergen-Belsen. Er gehörte zu den wenigen Überlebenden.

(Vom Vergehen der Hoffnung. Zwei Jahre in Buchenwald, Peenemünde, Dora, Belsen, Göttingen 2013)

JUGEND IM KZ MITTELBAU-DORA